Text - "Die Frau von dreißig Jahren" Honoré de Balzac

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Trifft man nicht viele Menschen, deren völlige Nichtigkeit allen Leuten, die sie kennen, ein Geheimnis bleibt? Ein hoher Rang, eine vornehme Geburt, wichtige Ämter, ein gewisser Firnis von Höflichkeit, eine große Zurückhaltung im Benehmen oder das Blendwerk des Vermögens - das sind für sie sozusagen Schutzwälle, die es der Kritik verwehren, bis in ihr intimes Leben einzudringen. Diese Leute gleichen den Königen, deren wahre Gestalt, Charakter und Sitten niemals genau bekannt sind oder richtig beurteilt werden, weil sie entweder aus zu großer Ferne oder aus zu großer Nähe gesehen werden. Diese Personen, deren Verdienst gemacht ist, fragen, statt zu sprechen, besitzen die Kunst, die andern in Szene zu setzen, und vermeiden es so, selbst vor sie treten zu müssen; dann ziehen sie mit glücklichem Geschick jeden am Fädchen seiner Leidenschaften oder Interessen und spielen auf diese Weise mit Menschen, die ihnen in Wahrheit überlegen sind, machen sie zu Marionetten und halten sie für klein, weil es ihnen gelungen ist, sie bis zu sich herabzuziehen. Sie gelangen dann zu dem ganz natürlichen Triumph des beschränkten, aber beharrlichen Kopfes über die Rastlosigkeit bedeutender Köpfe. Um diese leeren Köpfe zu beurteilen und ihren negativen Wert abzuwägen, muß daher der Beobachter einen mehr feinen, als überlegenen Geist besitzen, mehr Geduld als Weite des Blickes, mehr Feingefühl und Takt als Bildung und Größe der Ideen. So viel Geschicklichkeit diese Usurpatoren auch entfalten, ihre schwachen Seiten zu verbergen, so ist es ihnen doch sehr schwer, ihre Frauen, Mütter, Kinder oder den Freund des Hauses zu täuschen; aber diese Personen bewahren fast immer das Geheimnis eines Gegenstandes, der gewissermaßen die gemeinsame Ehre angeht, ja sie helfen ihnen oft noch, die Welt zu täuschen. Wenn dank solcher häuslichen Verschwörung viele Nullen für höhere Menschen gelten, so machen sie die Zahl der höhern Menschen wett, die für Nullen gelten, so daß der Gesellschaftsstaat immer die gleiche Menge scheinbarer Kapazitäten hat.

Man denke sich nun, welche Rolle eine Frau von Geist und Gefühl neben einem Manne dieses Schlages spielen muß. Man wird erkennen, daß das ein Leben voll des Schmerzes und der Aufopferung ist, für die gewisse Herzen voll Liebe und Zartgefühl nichts hienieden schadlos halten kann. Wenn eine starke Frau sich in so schrecklicher Lage befindet, so entreißt sie sich ihr durch ein Verbrechen, wie es Katharina II. tat, die trotzdem die Große genannt wird. Aber nicht alle Frauen sitzen auf einem Throne, und so verzehren die meisten sich in häuslichem Unglück, das, wenn es auch im Verborgenen bleibt, doch nicht minder schrecklich ist. Diejenigen, die hienieden unmittelbaren Trost für ihre Leiden suchen, tauschen, wenn sie ihren Pflichten treu bleiben wollen, eben doch nur andere Schmerzen dagegen ein, oder wenn sie die Gesetze zugunsten ihres Vergnügens verletzen, so begehen sie Fehltritte.

Diese Betrachtungen sind sämtlich auf das geheime Leben Juliens anwendbar. So lange Napoleon auf der Höhe war, war der Graf d'Aiglemont ein Oberst wie viele andere, ein guter Ordonnanzoffizier, der eine gefährliche Sendung ausgezeichnet erfüllen konnte, aber unfähig war, ein Kommando von einiger Wichtigkeit zu übernehmen. Er erregte keinerlei Neid, und galt für einen der Tapferen, denen der Kaiser seine Gunst schenkte. Er war das, was man beim Militär schlechtweg eine gute Haut nennt.

Bei der Restauration, die ihm den Titel des Marquis zurückgab, zeigte er sich nicht undankbar; er ging mit den Bourbonen nach Gand. Diese Handlungsweise voll Konsequenz schien das Horoskop Lügen zu strafen, das einstmals sein Schwiegervater gestellt hatte, als er sagte, Victor werde nicht über den Oberst hinauskommen. Bei der zweiten Rückkehr wurde er zum Generalleutnant befördert und wieder zum Marquis erhoben und verfolgte nun das ehrgeizige Ziel, die Pairswürde zu erlangen. Er hielt sich zu den Grundsätzen und der Politik der Konservativen, umhüllte sich mit einer Verstellung, hinter der nichts steckte, wurde ernst, bedächtig, wortkarg und galt für einen tiefen Geist. Er beschränkte sich beständig auf die Formen der Höflichkeit, verschanzte sich hinter feststehenden Formeln, ging bald sparsam, bald verschwenderisch mit den fertigen Phrasen um, die in Paris regelmäßig geprägt wurden, um in kleiner Münze den Dummköpfen die Bedeutung großer Ideen oder Ereignisse zu übermitteln, und so hielt die Gesellschaft ihn für einen Mann von Geschmack und Wissen.

Starr auf seine aristokratischen Ansichten versessen, hatte er den Ruf eines schönen Charakters. Wenn er zufällig einmal wieder sorglos und flott wurde, wie er es einst gewesen war, so legten die andern der Bedeutungslosigkeit und Nichtigkeit seiner Worte einen verborgenen diplomatischen Sinn bei.

O, er sagt bloß nicht, was er sagen will, dachten die sehr ehrbaren Leute.

Seine Tugenden kamen ihm ebenso zustatten wie seine Fehler. Seine Tapferkeit brachte ihm einen hohen Ruf als Soldat ein, der auch durch nichts Lügen gestraft wurde, weil er nie selbständig kommandiert hatte. Sein männliches, edles Gesicht ließ große Gedanken vermuten, und seine Physiognomie hatte für niemand, außer seiner Frau, etwas Hohles. Indem Marquis d'Aiglemont alle Welt seine unechten Talente loben hörte, glaubte er schließlich selbst daran, daß er einer der hervorragendsten Männer bei Hofe sei, wo er dank seinem Äußeren zu gefallen wußte und niemand seine verschiedenen Vorzüge bestritt.

Trotzdem war Herr d'Aiglemont zu Hause bescheiden. Er fühlte instinktiv die Überlegenheit seiner Frau, so jung sie auch war; und aus diesem unwillkürlichen Respekt erwuchs eine geheime Macht, zu der die Marquise wider den eigenen Willen gelangte, so sehr sie sich auch sträubte, die Bürde auf sich zu nehmen. Als Ratgeberin ihres Mannes lenkte sie dessen Handlungen und verwaltete das Vermögen. Dieser fast widernatürliche Einfluß wurde für sie zu einer Art Demütigung und brachte viele Schmerzen mit sich, die sie in ihrem Herzen begrub. Zuerst sagte sie sich in ihrem echt weiblichen Instinkt, es sei weit schöner, einem talentvollen Manne sich unterzuordnen, als einen Tropf zu regieren, und eine junge Frau, die wie ein Mann denken und handeln müsse, sei weder Frau noch Mann, bliebe wohl frei von den Mißständen des Weibes, sage dabei aber doch allen Freuden ihres Geschlechtes ab. Und bei dem allem erreiche sie doch keines der Vorrechte, das unsere Gesetze dem stärkeren Geschlecht einräumen.