Text - "Die Glücklichen" Marie Bernhard

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Ein so reizendes Stück Erde! Tief gelegen - hoch gelegen, wie man's eben nehmen wollte, denn die zierlichen, wie aus der Spielzeugschachtel genommenen Häuschen kletterten hier waghalsig die Berge empor, versteckten sich dort eigenwillig unter breitästigen Obstbäumen tief drunten im Thal. Aber die Sonne fand sie alle und übergoß sie mit breiten Strahlenfluten hellen Goldes, und der Bergwind, wie er frisch und kühl vom Gebirge herunterfuhr, strich darüber hin - und ringsumher griffen die Berge wie die Glieder einer gewaltigen Kette ineinander ... einige grün, dicht bewaldet, die anderen kahl und schroff, hoch oben nur mit kümmerlichem Fichtenwuchs bestanden, und etwelche unter ihnen stolz zu den Wolken aufragend, ewigen Schnee auf dem Haupt, und in den Falten des Obergewandes blauschimmerndes Gletschereis!

Das Klingersche Pensionat lag auf einer mäßigen Höhe, wie von einer willfährigen Hand gerade dort hingeschoben, um den schärfsten Blick, die weiteste Umschau halten zu können ... ein solid gebautes Haus, mit Reben umklettert, mit hübschen Altanen, da und dort und mit einem Garten, der in Terrassen zu den hinter dem Hause gelegenen Bergen aufstieg. Das Haus genoß eines guten Rufes seit Jahren schon, man war vortrefflich dort aufgehoben, man erhielt für gutes Geld gute Speisen und wurde sehr aufmerksam bedient. Heuer war der Besuch mäßig gewesen, der andauernde Regen hatte die Leute zurückgehalten.

Jetzt aber, gegen das Ende des August, da die Abende schon länger wurden und der Sommer sich dem Ende zuneigte, schien die Natur sich zu schämen ob all' der Unbill, die sie der armen Menschheit angethan. Nun wurde es lau und wohlig, nicht mehr schnob der Wind mit höhnischem Pfeifen von den Höhen herab - die Gebirgshäupter zogen langsam die Schleier nieder und sahen leuchtend ins Thal, goldfunkelnd strömte der Sonnenschein über das gesegnete Stückchen Erde, und es gab ein Aufatmen überall: Gottlob, wir haben den Sommer geschenkt bekommen!

In das Pensionat flogen Briefe von nah und fern, gleich weißen Friedenstauben - die späten Sommergäste meldeten sich. Viele hatten das Vertrauen verloren und wagten sich nicht mehr aus den Städten heraus, aber wer den Mut gehabt hatte, bereute es sicher nicht, denn die köstliche Bergnatur lachte vom hellen Morgen bis zum Abend in ungetrübter Herrlichkeit!

Fräulein Rosa Hesse war sich anfänglich etwas verwaist vorgekommen. Ja, ja, das alte Ehepaar aus Westpreußen war gemütlich und gut, die zwei jungen Mädchen aus Dresden mit ihrem schwerhörigen Onkel schienen gut erzogen und legten ihr nichts in den Weg - aber war denn das ein Publikum für sie, den Schöngeist, oder ließ sich irgend etwas Romantisches, Anziehendes über diese Leute denken, die so ganz harmlos in den Tag hineinlebten, ihre Ausflüge besprachen, aßen, tranken und von höheren Interessen nicht den Schimmer besaßen?

Da war noch eine ältliche Dame aus Stettin in Pommern, die hatte ein feines, stilles Gesicht und kluge Augen ... vielleicht hatte sie allerlei erlebt - aber sie ließ schwer an sich kommen. Sie schien leidend zu sein, suchte die Einsamkeit, grüßte sehr höflich, sprach mit sympathischer Stimme dann und wann ein paar Worte, die auch nichts besonderes sagten, und zog sich nach den Mahlzeiten sehr bald in ihr Zimmer zurück. Ein junger Handelsbeflissener, der mit den beiden älteren Herren zuweilen Skat spielte, und ein jüdischer Kaufmann aus Tarnopol vervollständigten die Gesellschaft - Fräulein Hesse ließ oft ihre Blicke mit stillem Seufzen über diese Tafelrunde gleiten und hielt sich mit Resignation an die ausgezeichnete Kost des Pensionates, obgleich materielle Dinge für ihre höher veranlagte Natur sonst wenig in Betracht kamen!