Text - "Auf Gottes Wegen" Björnstjerne Björnson

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Im Tauwetter, auf der Felsenkuppe nach der See zu, stand im letzten Sonnenglanz ein vierzehnjähriger Junge, ganz in sich versunken. Er blickte gen Westen übers Meer hinaus, er blickte gen Osten, auf die Stadt, den Strand, die mächtigen Berge, hinter denen noch höhere Felsengipfel emporragten. Alles in klarer Luft.

Der Sturm hatte lange und furchtbarer gewütet, als die ältesten Leute sich entsinnen konnten. Trotz der neuen Mole hatten sich Schiffe im Hafen losgerissen und waren untergegangen. Der Telegraph meldete von Schiffbrüchen die Küste entlang; in der ganzen Umgegend gab es nichts als zerrissene Netze, fortgeschwemmte Fischreusen, verschwundene Bootstege. Und immer noch hatten die Leute Angst, das Schlimmste komme noch erst.

Jetzt endlich - seit ein paar Stunden - war es vorüber; der Sturm hatte sich gelegt, die Windstöße, die ruckweise aufeinander gefolgt waren, hörten auf; kaum noch ein letzter Nachhall war zu spüren.

Nur das Meer wollte nicht gehorchen. Die Tiefen aufrühren und dann einfach davonlaufen - das geht doch nicht! Wellenzüge, soweit das Auge reichte, höher als haushoch, kamen in endlosen Reihen, mit schaumweißen Kronen und donnerndem Fall. Über Stadt und Strand hin dröhnte ihr Tosen, gewaltig, dumpfrollend, wie Bergrutsche in der Ferne.

Jedesmal, wenn die Wogen in voller Höhe gegen die Klippen stürmten, spritzte der Gischt meterhoch empor; von weitem sah es aus, wie wenn weiße Meeresungeheuer der alten Sagen hier ans Land emporzuklimmen versuchten. Aber nur vereinzelte salzige Spritzer gelangten an ihr Ziel. Sie brannten dem Knaben, der da stand, auf der Wange; doch er rührte sich nicht vom Fleck.

Gewöhnlich sagten die Leute, nur der tollste Weststurm vermöchte den Wellenschaum so hoch emporzuschleudern; heute kam er bei stiller Luft. Das hatte nur einer erlebt; und das war der Junge!

Weit draußen im Westen verflossen Himmel und Meer in der Glut der untertauchenden Sonne. Etwas wie ein goldenes Friedensreich breitete sich da hinten aus. Alle die meerschwarzen, weißköpfigen Wellen, die sich, soweit der Blick reichte, von dort heranwälzten, waren vertriebene Aufrührer. Reihe auf Reihe kamen sie daher, unter millionenstimmigem Protest.

Eben jetzt hatte der Farbenkontrast seinen Höhepunkt erreicht. Keine Vermittelung mehr. Nicht der leiseste rote Schimmer drang mehr bis herüber. Dort die warme Glut, hier das kalte Schwarzblau über dem Meer und dem Schneemorast am Land. Was man hoch droben von der Stadt sah, kroch in sich zusammen und ward immer kleiner mit jedem Male. Der Junge wandte den Blick vom Meere landwärts. Und immer unruhiger wurde er. Das kündete Unheil. Sollte wirklich noch mehr kommen? Seine Phantasie war aufgeschreckt und, übernächtig wie er war, hatte er keine Widerstandskraft.

Draußen die Pracht begann zu erlöschen; alle Farben verblichen gleichzeitig. Das Brüllen von unten, wo die Ungeheuer heraufwollten, klang stärker; oder war er nur hellhöriger geworden? Galt ihm das? Ihm? Was hatte er denn wieder getan? Oder würde er vielleicht bald irgend etwas anstellen? Schon öfter war diese unklare Angst eine böse Vorbedeutung gewesen!

Nicht der Sturm allein hatte ihn geschreckt. Vor kurzem hatte ein Laienprediger geweissagt, die Welt werde untergehen. Alle Anzeichen der Bibel täten genau stimmen, und die Zahlen bei Jeremias und Daniel seien nicht mehr zu mißdeuten. Der Prediger erregte solches Aufsehen, daß die Zeitungen sich der Sache bemächtigten und erklären mußten, ganz dasselbe sei schon unendlich oft prophezeit worden, und die Zahlen bei Jeremias und Daniel hätten immer gestimmt. Aber als der Orkan losbrach, entsetzlicher denn seit Menschengedenken, als Schiffe sich losrissen und gegen die Brücken geschleudert wurden, zerschmettert und zerschmetternd, und zumal als die Finsternis der Nacht das Erdreich bedeckte, und sämtliche Lichter in den Laternen erloschen ... als man die Brandung bloß noch hörte, ohne sie mehr zu sehen ... dazwischen Kommandorufe, Getöse, Gekreische, langgedehntes Jammergeschrei ... und dabei in den Straßen das Entsetzen, wenn ganze Dächer abgehoben wurden, die Häuser erbebten, Scheiben klirrten, Steine durch die Luft flogen, Menschen flüchteten, ferne Rufe die Angst erhöhten ... ja, da gedachten wohl manche der Worte des Laienpredigers: So helf uns Gott! Dies ist der jüngste Tag! Bald werden die Sterne fallen! Besonders die Kinder waren in einer Todesangst. Die Eltern hatten keine Zeit, bei ihnen zu bleiben. Denn noch in der letzten Stunde war man einigermaßen im Zweifel, ob es auch wirklich die letzte Stunde war, und nach alter Gewohnheit behielt die Sorge um den irdischen Besitz doch die Oberhand. Man mußte verstecken und abschließen und eilen, und nach dem Feuer sehen und an allen Ecken und Enden sein. Den Kindern aber steckte man Gebet- und Gesangbücher in die Hände und hieß sie lesen, was da von Erdbeben und anderen Plagen und vom jüngsten Tage stand; man schlug ihnen rasch die Stellen auf und stürzte davon. Als ob die Kinder jetzt hätten lesen können!

Sie verkrochen sich lieber im Bett und zogen die Decke über den Kopf; manche nahmen den Hund mit oder die Katze; sie fühlten sich geborgener so; sie wollten zusammen sterben! Aber oft wollten Hund und Katze nicht unter der Decke sterben, und dann setzte es einen Kampf.

Der Junge, der oben auf der höchsten Felsenkuppe stand, war vor Schreck überhaupt rein von Sinnen gewesen. Aber er war einer von denen, die das Entsetzen von einem Ort zum anderen hetzte, vom Haus auf die Straße, von der Straße nach dem Hafen, vom Hafen wieder nach Hause. Nicht weniger als dreimal war sein Vater hinter ihm her gewesen, hatte ihn eingefangen, ja, sämtliche Türen hinter ihm verrammelt; aber entwischt war er doch. So etwas blieb doch sonst nicht unbestraft; kein Junge wurde strenger gehalten und so reichlich mit Prügel bedacht wie Edvard Kallem. Aber ein Gutes hatte der Sturm doch gehabt: Prügel setzte es nicht in dieser Nacht.

Die Nacht verging, und noch standen die Sterne am Himmel; der Tag kam, und die Sonne schien hell wie immer. Auch der Sturm ging vorüber, und mit ihm der letzte Rest von Angst.

Doch hat die Angst einmal ein Menschengemüt so grenzenlos beherrscht, da bleibt der Schrecken vor dem Schrecken zurück. Nicht allein in bösen Träumen, nein, auch am Tage, wenn man sich am allersichersten wähnt, lauert sie in unserer Phantasie, um beim geringsten Außergewöhnlichen über uns herzufallen, uns mit tückischen Augen und Nebelodem zu verschlingen, uns bisweilen in den Wahnsinn zu treiben ...

Da stand der Knabe; es war ihm unbehaglich zu Mut in der sinkenden Sonne und beim Toben der Brandung, - und da war auch schon die Höllenangst wieder über ihm; die Schrecken des jüngsten Tages umbrausten ihn. Er begriff nicht, wie er sich so gefährlich weit hier herauf hatte wagen können, und noch dazu allein! Wie gelähmt fühlte er sich; er wagte nicht, den Fuß zu heben - wer weiß, ob er nicht beobachtet wurde; Feindesmächte waren um ihn her. Er betete heimlich zu seiner verstorbenen Mutter: wenn das wirklich das Ende sei, und die Auferstehung sie befreie, so möge sie hier heraufkommen zu ihm; nicht zu seiner Schwester - die hatte ja Rektors; er aber hatte niemand.