Text - "Aus der Chronika eines fahrenden Schülers" Clemens Brentano

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Da ich nun in den Garten gekommen war, den ich vorher auch noch nicht gesehen denn mein gnädiger Herr und Ritter war den Abend spät mit mir angekommen und ich im Finstern in mein Stüblein gebracht worden, konnte ich vor Staunen und Betrachten der neuen Dinge um mich her auch nicht zum Gebete kommen. Ich fand mich von den schönen Laubgängen, Zierfeldern und Pflanzen und den blühenden Bäumen schier ebenso sehr überraschet als von meinem neuen Gewande. Ich fand mich gleich einem neugebornen Kinde, welches mit allem spielet, und noch nicht beten kann, und erst nach einiger Erfahrung in der Süßigkeit des Lebens seine Hände zum Danke falten lernet. Der blühende Mal, das lustige Singen der Vögel, die vielen jungen Kräuter und Blümlein, die mit Taublicken vor der Sonne erwachten, der kühle Wasserstrahl, welcher in einem mit bunten Kieseln und Muscheln ausgelegten Brunnen tanzte, schienen mir alle so neu und wunderbar, als hätte ich dergleichen niemals gesehen, und wußte ich auch nicht, was aus allem diesem werden sollte.

So wie die lieben Kinder durch die Blumen gehen und sie brechen, und Kränze winden und sich bei den Händen fassen und mit den Kränzen im Kreise tanzen, gleichsam selbst ein lebendiger Blumenkranz; wie sie aber nicht gedenken der Frucht im treibenden Sommer, und der Ernte im reichen Herbst, und des Todes in dem trüben, tiefsinnigen Winter: also wandelte auch ich armer Schelm wie ein einfältiges Kind ohne Witz durch den Garten und konnte vor großer Bewegung über mein neues Glück, das mir gestern früh noch nicht geträumt hatte, nicht zum Gebete gelangen.

Mein freudiges Erstaunen wollte aber nicht lange dauern; denn als ich meine Augen ersättiget hatte, ward es mir als einem Hungrigen, der sich ohne Gebet zu einer reichlichen Mahlzeit gesetzet hat, welche ihm Gott darum nicht gesegnet. Alle das häusliche, wohlgepflegte Behagen des schönen Ziergartens erfüllte mich mit traurigen Gedanken, und die Armut, die Einsamkeit meines eigenen Lebens trat mir in dieser reichen Umgebung zum erstenmal recht lebendig vor die Seele. Was mag trauriger sein als das Bild eines Bettlers, auf goldnem Grunde gemalet?

O meine Mutter, sagte ich mir, wer war sanfter und schöner, und feiner und edler als du, wer war würdiger, zwischen Blumen zu wandeln, als du, die wohl ihre Schwester und Gespielin sein konnte? Standen die Tränlein nicht auf den Wangen wie die Tautröpflein auf diesen Rosen, gingst du nicht durch den Wald wie ein Lüftlein durch die Blüten, und waren deine Augen nicht getreu und süß schauend wie die blauen Veilchen, deine Lippen nicht wie die rosinfarbenen Nelken, und flog dein gelbes Haar nicht wie der Sonnenschein? Aber du mußtest gehen wie Hagar mit deinem Ismael durch die Dornen in der Wüste. Ach, warum ward nicht dir so ein Garten und so ein Haus, und warum wohnest du zwischen fünf Brettern und zwei Brettlein und bist deines Lebens nicht froh geworden noch deines Todes? Sie haben dir keinen Kranz geflochten. Mir aber ist nichts geblieben als deine Zucht, und ich kann dein nicht gedenken in Freuden, denn mir gehöret nichts als die Armut, und ich habe keinen Säckel, aus dem ich dir das schönste Grab könnte erbauen lassen von Marmelstein und Gold.

Wie traurig ward ich da und wendete meine Augen von allem, was ihnen wohlgefiel, und wollte nichts anschauen, weil sie es nicht mit mir sehen konnte, weil sie ihre Augen nie mit so erlaubter Lust erquicken konnte. Auch fiel es mir bittrer noch auf die Seele, daß ich eines Ritters Sohn sei, ohne Wappen und ohne Waffen. Tränen füllten mir die Augen, und Unwill erfüllte meinen ganzen Leib, der in dem neuen geschenkten Gewand zu brennen schien, und ich spannte mein enges, durchlöchertes Mäntelein so um mich, daß es noch mehr zerrissen.

So schritt ich, als suche ich die Wildnis, nach einem einsamem ungepflegten Teile des Gartens, und kaum stand ich im hohen Gras unter hohen Linden, so konnte ich schon nicht mehr begreifen, wie dieser innre Schmerz und Zorn in mich zum ersten Male in meinem Leben gekommen sei, und gegen die Mauer des Gartens schreitend, sah ich an derselben in einem tiefen Bogenraum ein Heiligenhäuslein angebracht, darinnen war wohlvergittert ein buntgemaltes Schnitzwerk, die Anbetung der heiligen drei Könige im Stall zu Bethlehem, aufgestellt. Davor kniete ich nieder ins Gras und betete von ganzem Herzen. Da zerrann bald all mein Leid und meine Hoffart vor dem Sohne Gottes, der nackt und arm in einer Krippe vor mir lag, und dem doch die Könige dienten. Wie fühlte ich mich in meiner Ungebärdigkeit beschämt! Und da ich mich mit Tränen angeklagt hatte, dankte ich von ganzem Herzen dem Herrn, daß er mich armen fahrenden Schüler nicht vergessen, und mich durch seine Barmherzigkeit zu meinem gnädigen Herrn und Ritter gebracht, gelobte auch, ferner mich aller Hoffart zu enthalten und die Künste, welche ich durch seinen Beistand mit schwachen Sinnen erlernet, zur Mehrung seines Reiches auf Erden treu anzuwenden.

Da ich nun nach solchem Gebete einen merklichen Trost in meinem Herzen spürte, nahm ich ein gülden gewirktes Band, worauf das Ave Maria stand, aus meinem Gebetbüchlein, und hängte es, durch das Gitter langend, dem Bilde der Jungfrau Maria über den Arm, als das Opfer eines törichten Menschen, der vor ihrem Sohne betend Trost gefunden hatte. Dieses Band aber war mir das Liebste, was ich hatte. Eine fromme Klosterfrau, meiner selgen Mutter Befreundte, hatte es mir einst für ein Lied, das ich ihr gedichtet und gesungen, geschenket, und war es zu Marburg an St. Elisabethen Grab angerühret worden; ich aber hatte es bisher als einen Blattzeiger in meinem Gebetbüchlein geführet. Dann nahm ich auch mein Mäntelein ab, und rollte es zusammen in einen langen Wulst und flocht es durch die obern Stäbe des Gitters vor dem Bilde, als einen aufgerollten Vorhang, zum Gedenken meiner zeitlichen Armut, welche durch Gott sich in Freud und Fülle gewandelt hatte. Nun wendete ich mich nach dem Garten zurück, der mir ganz anders erschien als vorher.

So mag nichts vor dem Gemüte des Menschen bestehen, welches alles nach sich umgestaltet. Jetzt, da ich gebetet hatte, erschienen mir alle die roten, leibfarben und weißen Blümlein des Gartens jene Blumen, durch die der König Ahasverus in seinem Schloßgarten zu Süsan gewandelt, seines Zornes zu vergessen. Ja, es war mir, als sei der liebe Gott durch diese Blumen gegangen und habe seinen gerechten Zorn über meine Ungebärde hier an der Lieblichkeit seiner Werke gesänftiget; denn hier an diesem ersten Morgen meines zwanzigsten Jahres ist mir vieles Licht in der Seele aufgegangen, und ist mir der Frühling ein weiser Lehrer geworden.

Besonders aber hat mich der hohe Münsterturm erschüttert, als ich aus einem schattichten Baumgang hervortrat und ihn über die Dächer der Nachbarhäuser auf mich niederschauen sah. War mir es doch im Anfang so bange vor ihm, wie es einer Grasmücke sein muß, wenn ein Riese den Busch über ihrem Neste öffnet und auf sie niederblickt. Alles Menschenwerk, so es die gewöhnlichen Grenzen an Größe oder Vollendung überschreitet, hat etwas Erschreckendes an sich, und man muß lange dabei verweilen, ehe man es mit Ruhe und Trost genießen kann.