Text - "Die erste Stunde nach dem Tode" Max Brod

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Das sagte ich, weil es wahr ist, einfach unbestreitbare Tatsache. Bester Beweis: ebendieselben Sozialisten bewilligen uns jedes Jahr glatt unsere Kriegskredite. Aber zwischen Gewohnheit, und Freundschaft liegt doch wohl noch so manches, nicht wahr? Man hat auch üble Gewohnheiten, und ich stehe nicht an, den Dauerkrieg als eine solche üble Gewohnheit Europas zu bezeichnen. Aber wer wagt es ernstlich zu bestreiten, daß wir den Krieg restlos in die Reihe unserer sozusagen instinktiven Lebensfunktionen mit eingereiht haben? Kein Wunder, die meisten von unserer repräsentativen Generation waren noch schulpflichtige Kinder, als der Krieg begann. Wir sind mit dem Krieg aufgewachsen und werden zweifellos nicht so lange leben wie er. Die heutige Jugend weiß gar nicht, was dieser sagenhafte Zustand Frieden bedeutet, den sie nie erlebt hat. Ja, wenn man es genau nimmt, hat es eigentlich noch niemals Frieden gegeben, so wie es meiner festen Überzeugung nach auch nie einen geben wird. Es war nur Nicht-Krieg, ein durch geschäftsmännische Heuchelei und künstlich errechnete Verträge überkleisterter Zustand gegenseitiger Feindschaft und übelsten Ressentiments zwischen den Staaten. Ein Schriftsteller, der den Ausbruch des Krieges als reifer Mann miterlebt hat, also die Zustände vorher und nachher als Zeitgenosse wohl miteinander vergleichen konnte, ich meine Max Scheler - der auf meine Anordnung hin jetzt in den Schulen gelesen wird - hat das damals sehr gut dargestellt. Der Unterschied zwischen dem versteckten und offenen Krieg, der dann nur das vorhandene Haßverhältnis enthüllte, ist nach diesem Autor gar nicht so bedeutend gewesen. Ich stimme ihm in diesem Punkte vollständig bei. Anders wäre es ja auch gar nicht erklärbar, daß wir den Krieg so gut vertragen und ihm unsere Organisation wirklich lückenlos anpassen konnten. Es war eben immer Krieg, seit die Welt besteht. Krieg ist der natürliche Zustand der Menschheit, nur seine äußere Form wechselt. Schauen Sie doch um sich, lieber Herr von Crudenius. Sieht diese belebte Straße, dieser Andrang vor dem Theater, diese Menschenströmung um die Warenhäuser herum und in sie hinein wie etwas Abnormales aus? Unsere Wirtschaftsmaschine arbeitet nach Überwindung einiger anfänglicher Störungen, die uns heute kindlich anmuten, tadellos. Der Export hat aufgehört, der innere Markt hat sich dafür erschlossen. Und mit welchem Erfolg, das sagen Ihnen die nie dagewesenen Dividendenhöhen unserer Aktiengesellschaften. Die Vernichtung von Werten wird durch die angeregte Erfindertätigkeit und Nutzbarmachung neuer Rohstoffe mehr als wettgemacht. Wir nähern uns dem Ideal des Fichteschen geschlossenen Handelsstaates. Die Umschichtung der Berufe ist leicht und radikal vor sich gegangen. Der Mann ist Krieger, die Frau zu jeder Art bürgerlicher Arbeit erzogen, mit ihr das Heer der Alten und Untauglichen. Gewiß bedauert es niemand mehr als ich, daß jährlich einige hunderttausend junge Leute an der Grenze fallen müssen, aber ist denn im sogenannten Frieden niemand gestorben? Wir haben es ja durch eine zielbewußte Bevölkerungspolitik, durch energische Kinderversorgung im Staatswege, Aufhebung der Monogamie, regulierte Mannschaftsurlaube zu Fortpflanzungszwecken, durch Bodenreform, Einfamilienhaus, Kriegerheimstätte, Gartenstadt und andere vernünftige Maßnahmen, deren Durchsetzung man früher für einen Traum hielt, dahin gebracht, daß die Bevölkerungszahl sogar einen prozentuell höheren Jahreszuwachs zeigt, als jemals und daß der allgemeine Gesundheitszustand sich konstant bessert. Infolge Rückgangs der Säuglingssterblichkeit ist sogar die jährliche absolute Sterbeziffer samt allen Kriegsverlusten um etwas, allerdings nicht viel, kleiner, als die vor dem Kriege. Bitte, das ist statistische Tatsache. Wir züchten heute sozusagen Volk, während der Staat früher unbegreiflicherweise geradezu volksfeindliche Tendenzen wie den Großgrundbesitz und unhygienische Fabrikationsmethoden begünstigte.