Text - "Arabesken" Nikolaj Gogol

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Niemals haben die Ereignisse der Weltgeschichte eine solche Gewichtigkeit und Bedeutsamkeit angenommen, nie hat sie eine so große Zahl von individuellen Erscheinungen gezeitigt, wie im Mittelalter. Alle Weltbegebenheiten strömen, je näher sie diesen Jahrhunderten liegen, nach langer Unbeweglichkeit mit gesteigerter Geschwindigkeit wie in einen Strudel, in einen wildbrodelnden Wirbel zusammen, um, nachdem sie von diesem in Umschwung gebracht, sich untereinander vermischt haben, neugeboren in frischen Wellen wieder emporzutauchen. In diesen Jahrhunderten fand eine große Umwandlung der ganzen Welt statt. Sie sind der Knoten, in dem die alte und die neue Welt zusammentreffen. Man kann dem Mittelalter in der Geschichte der Menschheit dieselbe Bedeutung anweisen, wie sie das Herz im menschlichen Körperbau einnimmt, in das alle Adern einmünden und von dem sie alle ausgehen. Wie ging diese vollständige Umwandlung vor sich? Welches sind die ursprünglichen Elemente, die sich in ihr erhielten? Was kam Neues hinzu? In welcher Weise vermengte sich Altes und Neues? Was entstand aus dieser Vermengung? Wie bildete sich das majestätische, stolze Gebäude der Neuzeit? Dies sind so schwerwiegende Fragen, wie es wohl in der ganzen Geschichte kaum wichtigere gibt. Alles, was wir besitzen, dessen wir uns bedienen, was wir vor den früheren Jahrhunderten voraushaben, der ganze Bau und die kunstvolle Zusammensetzung unserer Administration, die Beziehungen der verschiedenen Stände untereinander, ja diese Stände selbst, unsere Religion, unsere Rechte und Privilegien, unsere Sitten und Gebräuche, selbst unser ganzes Wissen, das sich in so schnellem Fortschritt vorwärts bewegt - dies alles hat entweder seinen Keim und Ursprung in dem dunklen geheimnisvollen Mittelalter oder hat sich doch aus ihm entwickelt und herausdifferenziert. In ihm ruhen die ursprünglichen Elemente und das Fundament alles Neuen; ohne ein eingehendes, aufmerksames Studium dieser Epoche bleibt die neue Geschichte unzulänglich und unklar, der Forscher, der von ihr ausgeht, gleicht dem Besucher einer Fabrik, der sich über die schnelle Herstellung der Produkte wundert, da sie beinahe vor seinen Augen entstehen, und dabei vergißt, in das finstre Erdgeschoß hinabzusehen, wo die großen mächtigen Schwungräder verborgen sind, die den Anstoß zum Ganzen geben; solch eine Geschichte gleicht der Statue eines Künstlers, der keine Anatomie studiert hat.

Warum aber hat man sich trotz der großen Bedeutung dieser merkwürdigen Epoche immer so ungern mit ihrer Erforschung beschäftigt? Warum beeilt man sich, wenn man zum Mittelalter kommt, stets, es so schnell wie möglich durchzunehmen und abzutun? Und warum haben sich nur wenige, sehr wenige Menschen, ergriffen von der Größe des Gegenstandes, die Mühe genommen, einige von den angeführten Fragen zu beantworten? Mir scheint, es liegt daran, weil man dem Mittelalter stets den letzten Platz angewiesen hat. Man hielt diese Epoche eben für gar zu barbarisch und unkultiviert, und infolgedessen blieb sie in der Tat immer dunkel und unerforscht und wurde nie richtig in ihrem Werte erkannt und in ihrer genialen Größe dargestellt. Barbarisch kann man nur ihren Anfang nennen, aber selbst diese finstre Zeit birgt schon mancherlei, was unsere Neugierde zu reizen geeignet wäre. Schon der Prozeß der Vereinigung zweier Welten, der antiken und der neuen, der grelle Widerspruch in ihren Formen und ihren Eigentümlichkeiten, diese altersschwachen, absterbenden Elemente der Antike, die sich durch die neue Umgebung hindurchziehen, wie Flüsse, die ins Meer strömen, aber noch lange ihr süßes Wasser nicht mit den salzigen Wellen vermengen, sind interessanter - diese rohen, mächtigen Kräfte der neuen Zeit, die hartnäckig allen fremden Einflüssen widerstehen, um sie endlich doch unfreiwillig in sich aufzunehmen, die mühevolle Anstrengung, mit der diese europäischen Wilden die römische Kultur für sich zurechtschneiden, diese Bruchstücke, oder besser gesagt Fetzen römischer Formen und Gesetze inmitten der neuen noch unbestimmten, denen es noch an Gestalt, Grenze und Ordnung fehlt, dieses ganze Chaos, in denen die Elemente der furchtbaren Majestät des heutigen Europas und seiner tausendfältigen Kraft ungegliedert durcheinanderbrodeln: dies alles ist fesselnder für uns und regt unsere Neugierde mehr an, als die starre Zeit des römischen Weltreiches unter der Herrschaft kraftloser Imperatoren.

Ein zweiter Grund, warum man sich so ungern mit der Geschichte des Mittelalters beschäftigt, ist - die angebliche Trockenheit, die man mit ihr zu verbinden geneigt ist. Man betrachtet sie wie eine Menge verschiedener ungeordneter Ereignisse, wie einen Haufen unzusammenhängender und sinnloser Begebenheiten, die kein gemeinsames Band umschließt, das sie alle zu einem Ganzen vereinigt. In der Tat, ihre schreckliche und ungewöhnliche Kompliziertheit muß im ersten Augenblick chaotisch erscheinen; aber wenn man nur aufmerksamer und tiefer hineinblickt, so findet man bald Zusammenhang, Zweck und Richtung darin. Übrigens leugne ich nicht, daß man den Instinkt und das Verständnis haben muß, das nur wenigen Historikern verliehen ist, um dies alles zu entdecken. Einigen freilich ward die beneidenswerte Gabe zuteil, alles in bewunderungswürdiger Klarheit und Folgerichtigkeit zu sehen und darzustellen. Von ihrem Zauberstab berührt, beleben sich die Ereignisse und bekommen ihr eigenes Gepräge und Interesse; ohne sie dagegen erscheinen sie einem jeden noch lange trocken und sinnlos. Abgesehen etwa von einem stumpfsinnigen Dahinvegetieren der Völker ist alles, was immer geschehen mag, interessant, sofern es nur in wahrheitsgemäßen Chroniken aufgezeichnet ist. Überall gibt es einen durchgehenden Faden, wie jedes Gewebe seine Struktur hat, obwohl diese häufig vollständig in dem Einschlag verschwindet; und wie ein jeder Edelstein eine unsichtbare Lichtquelle enthält, die erstrahlt, wenn er der Sonne zugewendet wird so verliert sich dieser Faden nur da, wo die Überlieferung aufhört. So zieht sich auch in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters durch die Masse der Ereignisse das unaufhörliche Erstarken der päpstlichen Macht und die Entwicklung des Feudalismus wie ein unsichtbarer Faden hindurch. Fast könnte es scheinen, als kämen die Tatsachen ganz unabhängig voneinander zustande und drängten mit ihrem Glanz den einsamen, noch unbedeutenden römischen Erzbischof in den Schatten; ein mächtiger Herrscher oder sein Vasall tut sich hervor, scheint nur in eigenem Interesse zu handeln, und doch strömten alle wesentlichen Vorteile daraus unbemerkt nach Rom. Alles, was geschah, schien absichtlich und zum Vorteil des Papstes zu geschehen. Hildebrandt hat den Vorhang ein wenig gelüftet und uns die Macht gezeigt, die die Päpste schon frühzeitig errungen hatten. Die Geschichte des Mittelalters verdient am wenigsten den Vorwurf der Langenweile. Nirgends finden wir so viel Buntheit, so viel Handlung und Leben, solch krasse Gegensätze, so viel grelles Licht, wie in diesen Jahrhunderten: man könnte es mit einem gewaltigen Gebäude vergleichen, dessen Fundament aus festem, für die Ewigkeit gefügtem jungem Granit, und dessen dicke Mauern aus allerhand neuem und altem Material zusammengesetzt sind, so daß der eine Ziegelstein gotische Runen, der andere eine römische Vergoldung trägt; arabisches Schnitzwerk, griechische Karniese, gotische Fenster - alles ist hier vereinigt zu einem Turm von außergewöhnlicher Buntheit und Mannigfaltigkeit. Aber man kann wohl sagen, diese Grellheit sei nur ein äußeres Kennzeichen der mittelalterlichen Vorgänge; ihre innere Bedeutung besteht in ihren ungeheuren, gigantischen Dimensionen, in ihrer geradezu unerhörten Kühnheit, wie sie wohl nur der Jugend eigen ist, und ihrer Originalität, die sie zu einer einzigartigen Erscheinung macht; in der Tat treffen wir weder in der alten noch in der neuen Geschichte etwas an, was ihnen gleich oder auch nur ähnlich wäre.