Text - "Woher die Kindlein kommen" Hans Hoppeler

chließen und anfangen zu tippen
Zuerst müßt ihr wissen, daß wirklich der Storch keine Kinder bringt. Ihr kennt ja alle die Geschichte vom Rotkäppchen; aber sie ist nur ein Märchen, denn ein Wolf kann doch keine Großmutter hinunterschlucken. Und ihr kennt die Geschichte vom gestiefelten Kater, aber auch sie ist ein Märchen, denn eine Katze kann doch keine Schuhe anziehen und darin herumspringen. Und gerade so ist auch die Geschichte vom Storch ein Märchen, denn ein Storch kann doch keine Kindlein tragen. Man erzählt das nur zum Spaß den Kleinen, weil sie gerne Märchen hören; aber wenn die Kinder größer werden, dann sagt man ihnen, daß es nur ein Spaß war. Es ist grad wie mit dem St. Niklaus. Die Kleinen meinen, der alte Mann mit dem langen weißen Barte wohne draußen im Walde, und fürchten sich sehr vor ihm. Aber die größeren Kinder, so wie ihr seid, die wissen schon, daß es ja gar keinen Niklaus gibt im Walde, und daß das alles nur Märlein sind.

Also der Storch bringt die Kinder nicht. Aber wer denn? Vielleicht doch die Engel? Nein, auch die Engel nicht, sonst hätten wir sie sicher schon oft über den Häusern schweben sehen, denn es kommen ja alle Tage viele Kindlein zur Welt. Natürlich hätte der liebe Gott Englein genug, aber er braucht sie zu andern Dingen, und hat eine viel bessere Weise ersonnen, den Menschen Kindlein zu schenken. Er dachte nämlich: was man geschenkt bekommt, das freut einen, was man aber selber verdient hat, das freut einen noch viel mehr. Darum will ich den Menschen die Kindlein nicht einfach wie ein Geschenk auf den Tisch legen, sondern sie sollen sich die Kindlein selber verdienen, dann werden sie um so größere Freude an ihnen haben. Und ihr werdet gleich merken, wie recht der liebe Gott hatte, als er so dachte.

Denkt euch einmal zwei Knaben, die auf dem Gipfel eines hohen Berges die Aussicht bewundern. Der eine ist mit der Bahn hinaufgefahren; der andere aber hat den ganzen langen, steilen Weg zu Fuß gemacht. Welcher von beiden wird wohl die größere Freude an der prächtigen Aussicht empfinden? Gewiß der zweite Knabe; denn er hat durch viele Anstrengung und manchen Schweißtropfen die prächtige Aussicht sozusagen verdient, sie kommt ihm vor wie ein reicher Lohn für die gehabte Mühe. - Oder denkt euch zwei Freunde, von denen jeder eine wertvolle Markensammlung besitzt. Welcher wird mehr Freude an derselben haben, derjenige, der sie vom Großvater geschenkt bekommen, oder der, welcher sie selber im Laufe von Jahren durch viel Fleiß und manchen ersparten Batzen zusammengetragen hat? Ihr denkt doch auch der letztere, nicht wahr? Und ihr glaubt doch auch, daß es schöner sein muß, ein Häuschen als eigen zu besitzen, für das man zwanzig Jahre lang gearbeitet und gespart, als wenn man es von einem reichen Vetter geerbt hat? Und so könnten wir noch manche Beispiele nennen, die alle uns dasselbe lehren: Was wir selber erarbeitet, durch Anstrengung erworben haben, macht uns größere und tiefere Freude, als was uns mühelos in den Schoß gefallen ist.

Das weiß nun unser Vater im Himmel, von dem ja alle guten Gaben kommen, sehr wohl, und darum legt er den Menschen die herrlichsten Gaben, die er zu schenken hat, die kleinen Kindlein, nicht einfach in den Schoß, sondern sie müssen sich dieselben verdienen. Zwar nicht so, wie ein Arbeiter seinen Taglohn verdient; denn ein einziges Kindlein mit seiner unsterblichen Seele ist viel wertvoller und kostbarer, als alle Arbeit, die ein Mensch leisten kann. Aber doch so, daß ein Vater und eine Mutter viel bezahlen müssen, um ein Kindlein zu haben.

Nun fragt ihr aber ganz verwundert: bezahlen? Kann man denn kleine Kinder um Geld kaufen? Ja wohl, bezahlen müssen die Eltern! Zwar nicht Geld, aber viel Arbeit, Mühe und Schmerzen! Drum kommen die Kinder nicht wie die Sechsjährigen auf die Welt, die schon allein essen, springen und zur Schule gehen können, sondern Gott gibt sie den Eltern klein und ganz unbeholfen. Ein junges Hühnchen schlüpft aus dem Ei und springt gleich davon, ein junges Menschlein aber braucht ein ganzes Jahr, bis es die ersten Schritte wagt. Da muß die Mutter es herumtragen, ausfahren, trocken legen, ihm die Nahrung reichen und hunderterlei andere kleine Dienste erweisen, und wenn es endlich allein gehen kann, dann müssen Vater und Mutter ihm erst recht auf Schritt und Tritt nachgehen, und oft in tausend Ängsten sein, damit ihm ja nichts Böses zustoße.