Text - "Die Milchstraße" Fritz Kahn

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Wenn man in einer klaren Sternennacht aus der Lichtnähe menschlicher Behausungen in die Dunkelheit hinaustritt und den Blick zum Himmel wendet, sieht man zuerst nur die hellsten Sterne als leuchtende Punkte auf schwarzem Grund. Je länger man aber im Finstern weilt, um so mehr Sterne tauchen aus dem Dunkel; Hunderte, Tausende, erst vereinzelt, dann in Scharen, und wenn sich das Auge gänzlich an die Finsternis gewöhnt hat, so gewahrt es tief hinter dem Heer der übrigen Sterne einen schimmernden Nebelstreifen, der sich wie ein silbergraues Band um die Himmelskugel schlängelt - die +Milchstraße+.

Sie erhebt sich als ein 10-12 Mondscheiben breiter Lichtstreifen von unregelmäßiger Helle und Gestalt zwischen den beiden auffallenden Sternen Sirius und Prokyon über den Horizont, steigt zwischen dem glänzenden Bild des Orion und den Zwillingssternen Kastor und Pollux aufwärts durch das Dreieck des Fuhrmanns empor mitten durch den Perseus und überbrückt im ~W~ der Kassiopeia den Zenit in ihrer größten Annäherung an den Himmelspol. Von der Kassiopeia läuft sie zum hellen Stern Deneb im Schwan, wo sie sich in zwei Arme teilt, von denen der hellere und breitere genau über den Stern Atair im Adler, der schmälere und schwächere dagegen am Sternbild der Leier vorüber den Horizont hinabstrebt, um sich für unsere Breiten hier im Dunst der Atmosphäre zu verlieren. Auf der uns unsichtbaren Südhälfte des Himmels setzt sich die Milchstraße in genau der gleichen Weise fort. Die beiden Arme laufen getrennt zwischen Schütze und Skorpion und vereinigen sich, nachdem sie ein Drittel des ganzen Kreisumfangs gesondert waren, am hellen Stern Alpha im Centauern. Von hier aus läuft der ungeteilte Ring durch das schönste aller Sternbilder, das Kreuz, dem Südpol zu und steigt dann durch das ausgedehnte Bild des Schiffes hinüber in die Gegend des Orion, wo sich der Milchstraßengürtel wieder unserem nördlichen Firmament nähert.

Erhöbe man sich so hoch über die Erde, daß kein irdischer Horizont mehr den Blick begrenzte, so würde man demnach die Milchstraße als einen ununterbrochenen Ring um das ganze Himmelsgewölbe ziehen sehen wie einen silbernen Reifen um eine gläserne Kugel.

Die Milchstraße ist keineswegs ein regelmäßige Gebilde. In einem Drittel ihres Laufes vom Schwan bis zum Centauern ist sie in zwei Arme geteilt wie ein Fluß, der eine Insel umfließt. Ihre Breite wechselt, erreicht ihr größtes Maß im Bild des Skorpions, ihre geringste Ausdehnung nahe dem Südpol im Kreuz. Seitenarme zweigen von ihr ab, verlieren sich allmählich im Dunkel des Himmels oder brechen scharf und hart ab, als seien sie abgeschnitten. Ihre Lichthelle ist wechselnd. An manchen Stellen erscheint sie wolkenartig zusammengeballt und auffallend lichtstark, dicht daneben schwach, schattenhaft, zerrissen und zerklüftet, ja völlig von finsteren Räumen und Gängen durchbrochen, von denen man die zwei größten südlich im Kreuz und nördlich im Schwan als die beiden "Kohlensäcke" der Milchstraße bezeichnet hat.

Uns, die wir in hellerleuchteten Städten leben und, wenn wir reisen, im Expreßzug sicher unsere Schienenstraße zwischen Telegraphendrähten entlangsausen, kommt das Sternenband der Milchstraße nur selten zu Gesicht. Wir müssen es suchen, um es zu finden. Uns Kindern der Kultur ist zwischen Bogenlampe und Laternenpfahl der Glanz der Sterne entschwunden, und der Silbergürtel der Milchstraße gehört nicht zu den Schönheiten unserer täglichen Betrachtung. Wozu brauchen wir zu den Sternen aufzuschauen? Wann müßten wir durch einen Blick zum Himmel einen Weg erkunden, eine Stunde berechnen, eine Jahreszeit bestimmen? Der Sekundenschlag der Uhren zählt uns unsere Minuten, Turmglocken und Fabriksignale künden uns den Mittag, der Kalender führt uns durch Wochen und Monde, Telegraphenstangen und Eisenbahngleise weisen uns den Weg über wohlgepflegte Straßen und Dämme, Seekarte und Kompaß leiten unsere Dampfer über die Weiten vielbefahrener Meere. Was sind uns die Sterne? Sind sie uns mehr als ein Abendschmuck der Natur? Ist es uns nicht ein Erlebnis, wenn wir einmal auf Gebirg oder Meer den Sternenhimmel in ungetrübter Schönheit sehen? Wer von uns kennt den Lauf des nächtlichen Nebelbandes der Milchstraße?

Aber es gab Zeiten, in denen es anders war. Kein Rauch aus steinernen Schloten hüllte die Städte ein, kein Lichterglanz der Straßen rötete den Himmel über den Dächern der Häuser. Der Schein der Sterne fiel in ungedeckte Hallen und in stillverträumte Gärten. Auf seinem Wege durch das Land begleitete den Wanderer nichts als am Tag die Sonne und des Nachts die Gestirne. Von Meilenstein zu Meilenstein über Busch und Tal waren ihm die Himmelsbilder die einzigen Weiser seines Pfades. Den Schiffen auf weitem Meere zeigte nichts den Weg zur Heimat als die Plejaden und die Milchstraße. Odysseus sitzt des Nachts am Steuer und schaut empor zum Großen Bären; die drei Weisen wandern aus dem Morgenland einem Sterne nach gen Bethlehem; Kolumbus segelt über das Weltmeer unter dem blauen Banner der Sterne. Monde und Jahre wurden durch nichts anderes bestimmt als durch die Stellung der Gestirne. Wenn der Strahl des Sirius zum ersten Male durch den Mauerspalt des Hathortempels fiel und den Altar des Heiligtums mit mildem Glanze übergoß, verkündete der ägyptische Priester die Sonnenwende, und der Jahrestanz zu Dendera begann. Wenn das Regengestirn in der Dämmerung emporstieg, kehrt der Fischer heim vom Meere zur attischen Küste, treibt der Hirte seine Herde von den Bergen des Apennin, bricht der römische Imperator in Britannien seine Zelte ab, denn sie alle wissen, daß der Herbst mit seinen Stürmen naht. Den alten Völkern war der Sternenhimmel die Weltenuhr und die Milchstraße der große Zeiger auf dem gestirnten Zifferblatt. Der Mensch der Vorzeit fand sich am Himmel unter den Sternen zurecht wie wir uns in Fahrplan und Kalender zwischen Zahlen und Rubriken. Dem Menschen der Vergangenheit war der Sternenhimmel ebenso vertraut, wie er dem Menschen der Gegenwart es nicht ist.

Leider. Denn jenseits von allem trockenen Wissen geht dem Menschen, der den Himmel nicht kennt, ein sittlicher Reichtum verloren, der ihm in der maschinenschnellen Zeit der Moderne doppelt not und doppelt teuer wäre. Klein ist die Mühe, groß und nimmer endend der Lohn, ihn zu kennen. Ein abendlicher Blick vom Fenster seines Zimmers, vom Wege seines Gartens, von der Luke seines Daches, ein kurzes Stillestehen beim nächtlichen Gang durch den Park oder beim Überschreiten einer Wiese, und bald ist dem Naturfreund mit Hilfe einer Sternenkarte oder eines Sternbüchleins der Himmel bekannt. Wir wollen absehen von dem Hochgenuß, den ihm das Wissen über die Natur des Himmels bereitet. Jedes Wissen birgt Genüsse. Aber einzig und unvergleichlich ist die Wirkung auf das Gemüt, die aus der Kenntnis des gestirnten Himmels auf den Menschen niederstrahlt. Wer zu den Sternen aufschaut wie zu nimmer wankenden Freunden, dem gibt ihre ewige Ruhe im Strom des Lebens ein Bild von der Unendlichkeit und Größe der Welt, von der Kleinheit und Flüchtigkeit menschlichen Erlebens, den erhebt ihr Anblick über die kleinlichen Nöte des menschlichen Tagesdaseins und lenkt allabendlich wie ein Nachtgebet seine Gedanken aus der Tiefe des Alltagslebens zur Natur, zum Weltempfinden, zur Ewigkeitsidee. Und wenn er mit seinen Gedanken aus den Fernen des Universums zurückkehrt zu sich, zur Menschheit, zur Erde und bedenkt, daß in derselben Stunde Tausende Gleichgesinnter in allen Zonen der Erde zu diesem Himmelsbilde aufschauen, Tausende in seinem Anblick das Wesen der Welt bedenken, Ruhe, Kraft und Erbauung finden, daß Hunderte von Sternkundigen ihre Teleskope ebenso auf den Höhen der Cordilleren wie auf den Türmen des Vatikans, ebenso an den eisigen Felsenküsten des Nordens wie in der dunklen Tropennacht des Kaps auf diese Sternenpunkte richten, alle von gleichem Empfinden beseelt, von der gleichen Schönheit bezaubert - dann findet seine nächtliche Gedankenfahrt ins Reich der Sterne einen würdigen Abschluß durch das erhebende Gefühl von der Einheit der strebenden Menschheit, von dem friedlichen Zusammenschluß, von der geistigen Brüderschaft aller naturforschenden und naturverehrenden Völker und Menschen.

Unter allen Erscheinungen des Sternenhimmels mußte von frühester Zeit an das Band der Milchstraße Geist und Phantasie des Himmelsbetrachters am stärksten locken. Ein Nebelweg hoch zwischen glitzernden Sternen, der sich vom Firmament aus unerforschter Ferne emporhebt, in schwindelnder Höhe das Land überbrückt und jenseits hinter den Bergen, hinter denen das Glück wohnt, geheimnisvoll versinkt - kann etwas die Sehnsucht des Menschen mehr reizen, den Wissensdurst des Denkers mehr entfachen? In den ältesten Volksmärchen und Göttersagen der grauen Vorzeit taucht das Problem der Milchstraße hervor.

In der römischen Mythologie beschreibt Ovid die Milchstraße als den Weg, auf dem die Götter vom Olymp zum Palast des Zeus hinschreiten, und zu dessen Seiten die Behausungen der Unsterblichen liegen. Bei den Arabern ist sie die Mutter des Himmels, die mit ihrer Milch die Sternkinder nährt, oder der große Himmelsfluß, an dem die Sternbilder der Tiere zur Tränke ziehen. Schön und sinnvoll nannten die Mexikaner die Milchstraße die Schwester des Regenbogens, poetisch und gedankenreich nennen andere Völker sie den Pfad der Toten hinüber ins Land der Seligkeit.

Im Kreise dieser Volksvorstellungen wurde die Wissenschaft geboren. Bei Chinesen, Indern, Ägyptern und Chaldäern blühte die Astronomie, als Europa noch eine Wildnis war. Aber ihre Wissenschaft war auf das Praktische gerichtet und beschränkt auf Landvermessung, Kalenderkunde und Finsternisberechnungen. Für die Nebelferne der Milchstraße hatten die Astronomen zu Peking und die Irispriester am Nil kein Auge. Um sich mit einer so wenig hervortretenden schattenhaften Erscheinung zu befassen, mußte man Philosoph sein und den Himmel nicht als ein Kalendarium, sondern als eine Naturerscheinung, als ein Welträtsel betrachten, das man zu lösen sucht. Daher finden wir die ersten ernsten Gedanken über die Milchstraße bei den griechischen Philosophen. Wie es sich oft ereignet, daß man in kindlicher Unbefangenheit im ersten Zugreifen der Wahrheit näher kommt als durch gewissenhafte Bemühungen, so erfaßten die griechischen Philosophen ohne alle wissenschaftlichen Grundlagen nur von Vernunft, Gedankenklarheit, Schönheitssinn und Wahrheitsdrang geleitet das Bild der Welt in jenen Grundzügen der Wahrheit, die erst durch eine jahrtausendlange Forschung Allgemeingut der Menschheit geworden sind. Man könnte die griechischen Philosophen geradezu die Propheten der Wissenschaft nennen. Pythagoras hat das Wesen der Algebra, Euklid die Fundamente der Geometrie, Aristoteles die Methoden der Naturbeschreibung, Demokrit die Atomlehre, Aristarch die Mechanik unseres Sonnensystems, Epikur mit Lukrez später den Entwicklungsgedanken mit allen seinen Konsequenzen durchgeführt. Unsere ganze moderne naturwissenschaftliche Weltanschauung, die sich erst im 19. Jahrhundert zur vollen Blüte entfaltete, finden wir bei den griechischen Philosophen vor über 2000 Jahren als Knospe sprießen.

Im Kreise dieser Männer wurde das Milchstraßenproblem zum ersten Mal als wissenschaftliche Frage aufgeworfen. Die Pythagoräer knüpfen noch an die Phaëtonmythe an und erklären die Milchstraße für die Spur einer ehemaligen Sonnenbahn. Aristoteles hält sie für ein gewaltiges Meteor, sein Nachfolger Theophrast beschreibt sie als die Fuge zwischen den beiden Halbkugeln des Himmels, durch die das Licht des Zentralfeuers hindurchschimmere. Demokrit von Abdera, der geistvolle Begründer der Atomlehre (460 v. Chr. ), war der erste Sterbliche, der die Milchstraße als das erkannte, was sie nach den unzweifelhaften Ergebnissen der modernen Wissenschaft in Wahrheit ist: "als eine Anhäufung unendlich ferner dichtgedrängter Sterne".

Die Größe dieser Vorstellung im Hirn eines antiken Griechen können wir heute kaum noch würdigen. Man muß bedenken, daß sie im Kopf eines Menschen reifte, der in den Anschauungen erzogen wurde, Wald und Triften seien bevölkert von Nymphen und Faunen, drüben über den Schneegipfeln des Olymp wohnten in Saus und Braus die weltregierenden Götter, die Sonne sei der Wagen des Phoebus Apollo, dem die Mondgöttin Luna in der Nacht verliebt über die himmlischen Gefilde nachschweife, und das Tal zu Delphi sei der Nabel der Welt. In Demokrit verehren wir den Vater der Milchstraßenforschung.