Text - "Aurelia, oder, Der Traum und das Leben" Gérard de Nerval

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Der Traum ist ein zweites Leben. Ich habe nie ohne zu schaudern durch die Elfenbein- oder Horntore dringen können, die uns von der unsichtbaren Welt scheiden. Die ersten Augenblicke des Schlafes sind das Bild des Todes. Eine nebelhafte Erstarrung ergreift unsern Gedanken, und wir können den genauen Augenblick nicht feststellen, wo das Ich in einer andern Form die Tätigkeit des Daseins fortsetzt. Ein ungewisses unterirdisches Gewölbe erhellt sich allmählich und aus dem Schatten der Nacht lösen sich in ernster Unbeweglichkeit die bleichen Figuren, welche den Vorhof der Ewigkeit bewohnen. Dann nimmt das Bild Form an, eine neue Helligkeit erleuchtet diese Erscheinungen in wunderlichem Spiel: es öffnet sich uns die Welt der Geister.

Swedenborg nannte diese Visionen Memorabilia; er verdankte sie öfter der Träumerei als dem Schlaf; der goldene Esel des Apulejus, die göttliche Komödie Dantes, sind die dichterischen Vorbilder dieser Studien über die menschliche Seele. Ich will nach ihrem Beispiel versuchen, die Eindrücke einer langen Krankheit niederzuschreiben, die sich ganz in den Mysterien meines Geistes abgespielt hat; - und ich weiß nicht, warum ich mich des Ausdrucks "Krankheit" bediene, denn niemals habe ich mich, was mich selbst betrifft, wohler gefühlt. Mitunter hielt ich meine Kraft und meine Fähigkeit für verdoppelt. Es schien mir, als wüßte und verstände ich alles, die Einbildungskraft brachte mir unendliche Wonnen. Soll man bedauern sie verloren zu haben, wenn man das, was die Menschen Vernunft nennen, wiedererlangt hat?

Jene vita nuova hat für mich zwei Phasen gehabt. Diese Aufzeichnungen beziehen sich auf die erste.
- Eine Dame, die ich lange geliebt hatte, und die ich Aurelia nennen werde, war für mich verloren. Die Umstände dieses Ereignisses, das einen so großen Einfluß auf mein Leben haben sollte, sind unwichtig. Jeder kann aus seinen Erinnerungen die herzzerreißendste Gemütsbewegung, den fürchterlichsten Schicksalsschlag der Seele hervorsuchen; man muß sich da entschließen zu sterben oder zu leben; - ich werde später sagen, warum ich nicht den Tod gewählt habe. Die ich liebte, hatte mich verurteilt, ich war eines Vergehens schuldig, für das ich keine Verzeihung mehr erhoffen konnte; so blieb mir nichts übrig, als mich den niedrigen Betäubungen zu ergeben; ich heuchelte Freude und Sorglosigkeit, ich durchkreuzte die Welt und jagte unsinnig hinter Wechsel und Laune her; vor allem gefielen mir die Trachten und absonderlichen Sitten entfernter Völkerschaften. Es war mir, als ob ich so die Vorbedingungen von Gut und Böse verschob, die Ausdrücke sozusagen für das was wir Franzosen "Gefühl" nennen.

Welche Verrücktheit, sagte ich mir, eine Frau, die dich nicht mehr liebt, so platonisch zu lieben! Daran ist meine Lektüre schuld; ich habe die Erfindungen der Dichter ernst genommen, und ich habe mir aus einer gewöhnlichen Persönlichkeit unseres Jahrhunderts eine Laura oder Beatrice gemacht... Auf zu andern Abenteuern und dieses wird bald vergessen sein!
- Der Taumel eines fröhlichen Karnevals in einer Stadt Italiens verjagte all meine melancholischen Gedanken. Ich war so glücklich über die Erleichterung, die ich empfand, daß ich all meinen Freunden meine Freude mitteilte, und in meinen Briefen gab ich das als beständigen Geisteszustand aus, was nur fieberhafte Überreizung war.

Eines Tages kam in die Stadt eine Frau von großem Ruf, die mit mir Freundschaft schloß, und da sie gewohnt war zu gefallen und zu blenden, zog sie mich mühelos in den Kreis ihrer Bewunderer. Nach einer Abendgesellschaft, wo sie gleichzeitig natürlich und von einem Reiz erfüllt gewesen war, dessen Einwirkung alle spürten, fühlte ich mich in einer Weise in sie verliebt, daß ich keinen Augenblick zögern wollte an sie zu schreiben. Ich war so glücklich, mein Herz einer neuen Liebe fähig zu fühlen!... Ich borgte in dieser künstlichen Begeisterung dieselben Ausdrücke, die so kurze Zeit vorher mir gedient hatten, um eine wahrhafte und lang empfundene Liebe zu schildern. Als der Brief abgesandt war, hätte ich ihn zurückhalten mögen, und ich begann in der Einsamkeit von dem zu träumen, was ich eine Entweihung meiner Erinnerungen nannte.

Der Abend gab meiner neuen Liebe den ganzen Zauber des vorhergehenden Tages wieder. Die Dame zeigte sich empfänglich für das, was ich ihr geschrieben hatte, wobei sie einiges Erstaunen über meine plötzliche Glut erkennen ließ. Ich hatte an einem Tage mehrere Grade der Gefühle übersprungen, die man für eine Frau mit dem Schein der Aufrichtigkeit fassen kann. Sie gestand mir, daß es sie erstaune und zugleich mit Stolz erfülle. Ich versuchte sie zu überzeugen; aber was ich ihr auch immer sagen wollte, ich konnte in der Folge in unsern Unterhaltungen den rechten Ton meines Briefstils nicht mehr wiederfinden, so daß ich gezwungen war ihr mit Tränen zu gestehen, daß ich mich geirrt hätte, indem ich sie täuschte. Meine rührenden Geständnisse hatten immerhin einigen Reiz, und eine in ihrer Milde viel stärkere Freundschaft folgte auf vergebliche Zärtlichkeitsversicherungen.