Text - "Peter und Lutz" Romain Rolland

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Und es war doch nichts anders geworden. Er stand wieder in seinem Zimmer in einem Wirrwarr von Büchern und Papieren. Rings die altbekannten Geräusche. Auf der Straße unten verkündigten Hornsignale das Ende des Fliegeralarms. Von der Treppe her vernahm man das befriedigte Schwatzen der Hausparteien, die aus dem Keller heraufstiegen. Aus dem oberen Stockwerke hörte man das endlose Auf - und Abrennen des rappligen Nachbars, der seit Monaten auf die Rückkehr seines verschollenen Sohnes wartete. - Doch seine gewohnten Sorgen und Ängste - die lauerten nicht mehr im Zimmer. Wird einmal ein unvollkommener Akkord angeschlagen, so klingt er rauh und wirft Unruhe in unsere Seele, bis der eine Ton hinzukommt, der die feindseligen oder kühl fremden Einheiten erst zu einem Ganzen verschmilzt wie gegenseitig unbekannte Gäste, die gewartet haben, bis man sie einander vorstellt. Sofort ist dann das Eis gebrochen, und schöner Einklang strömt von Mensch zu Mensch. Bei Peter hatte die heimliche Berührung einer warmen Hand diese wunderbare Verwandlung bewirkt. Er wußte nicht, woher der neue Zustand kam; jedes Zergliedern lag ihm jetzt ganz fern. Er spürte nur, wie die gewohnte Tücke der Dinge plötzlich besänftigt war. So haben sich etwa stechende Schmerzen in unserem Kopfe auf Stunden häuslich eingerichtet: auf einmal merkt man, der Schmerz ist weg; wo ist er nur hingekommen? Ein Summen in der Schläfe als Nachklang ... das ist alles. - Auch Peter traute dem ungewohnten Frieden nicht recht. Er wurde den Argwohn nicht los, seine Qual sammle in solcher Atempause nur frische Kräfte, um ihn dann mit verdoppelter Wut anzufallen. So kannte er schon die Ruhepunkte, wie sie die Kunst gewährt. Wenn in unsere Augen göttliches Ebenmaß an Linien und Formen dringt oder im Ohre, in der wollüstigen Tiefe seiner Muschel, mit spielend vielgestaltiger Schönheit die Akkorde gleich Perlenschnüren rollen und sich im Gesetz magischer Zahlen edel verknüpfen, dann kehrt der Friede in uns ein, und wir tauchen tief in die Flut der Freude. Aber dies Strahlende kommt von außen, wie von ferner Sonne, deren Glühen über unendlichen Raum hinweg uns mit Zauberkraft dem Leben hoch entrückt hält. Doch das währt nur eine Weile, und dann sinkt man wieder zurück. In der Kunst kann man die Wirklichkeit nur vorübergehend vergessen. Der verschüchterte Peter war auf eine ähnliche Ernüchterung gefaßt. - Diesmal jedoch kam die Ausstrahlung von innen her. Das Leben blieb ihm dabei völlig gegenwärtig. Aber alles stand in schönem Einklang. Erinnerungen und neue Eindrücke. Sogar tote Dinge, die Papiere und Bücher, die im Zimmer verstreut lagen, bekamen Leben, bekamen eine Wichtigkeit, die sie ganz verloren hatten.

Seit Monaten war seine geistige Entwicklung gehemmt; er war wie ein Bäumchen, das in voller Blütenpracht vom Hauche der "drei Eismänner welk geworden ist. Freilich gab es praktische Jungen, welche die neuen Prüfungserleichterungen zugunsten der jüngsten wehrpflichtigen Jahrgänge so tüchtig ausnützten, daß sie, solange die Prüfer mehr als ein Auge zudrücken mußten, Zeugnis über Zeugnis unter Dach brachten. Das war Peters Art nicht. Andrerseits empfand er auch nicht den verzweifelten Wissensdurst anderer junger Leute, die im Angesicht des Todes sich gierig mit Kenntnissen vollpfropfen, zu deren Nachprüfung ihr Leben zu kurz sein wird. Das ständige Gefühl eines grausen Weges ins Leere, ins Nichts, das allenthalben hinter dem tollen, boshaften Trugbilde der Welt verborgen war - das schnitt seinem Wissensdrang die Schwingen durch. Er stürzte sich auf ein Buch, auf einen Gedanken - dann hielt er mutlos inne. Was sollte ihm das? Wozu denn lernen? Wozu inneren Reichtum häufen, wenn man doch alles verlieren, alles lassen soll, wenn einem nichts zu eigen gehört? Tätigkeit und Wissen hatte nur dann einen Sinn, wenn das Leben einen Sinn besaß. Um diesen Sinn des Lebens hatte er mit höchster Anspannung des Geistes, in tiefster Herzenssehnsucht umsonst gerungen. - Und mit einem Schlage hatte sich dieser Sinn des Lebens ganz von selber aufgetan ... Das Leben hatte einen Sinn ... Was war das nur? - Als er sich fragte, woher dies innere Lächeln kam, sah er die halb geöffneten Lippen vor sich, auf denen zu ruhen seine Lippen heiß begehrten.